„Du willst ein Buch über einen Mann schreiben, der schon so lange tot ist und den du nicht gekannt hast? Warum?“ Die Frage traf mich unvorbereitet. Ich saß im Zug auf dem Weg von Boston nach New York und unterhielt mich mit meiner Sitznachbarin. Ich steckte mitten in den Recherchen für eine Pilates-Biografie und war aufgeregt, weil ich in New York das Haus besuchen wollte, in dem Joe Pilates vierzig Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte.
„Alle machen seine Übungen“, sagte ich, „Millionen Menschen auf der ganzen Welt.“ Aber war das wirklich der Grund, warum ich ein Buch über ihn schreiben wollte? Ich lehnte mich zurück und dachte an Joe Pilates. Wieso faszinierte mich dieser Mann so sehr, dass ich seit über einem Jahr jede freie Minute nutzte, um mehr über ihn herauszufinden?
Er hat einfach Großartiges geleistet, dachte ich. In den letzten Monaten hatte ich an meinem eigenen Körper erlebt, wie effizient seine Methode war. Seit ich begonnen hatte, jede Woche eine Einzelstunde an den Pilates-Geräten zu nehmen, konnte ich förmlich beobachten, wie mein Bauch flacher und meine Wirbelsäule länger wurde. Meine Rückenschmerzen waren weg, obwohl ich genau wie früher meine Kinder durch die Gegend schleppte und stundenlang am Schreibtisch saß.
Aber das war nicht alles. Da war etwas an dem Menschen Pilates, das mich berührte, etwas, das mich für ihn einnahm. Diese Überzeugung, mit der er gegen alle Widerstände für seine Methode gekämpft hatte. Dass er mit über vierzig einen Neuanfang gewagt hatte, indem er aus Deutschland in die USA auswanderte und in New York sein Studio eröffnete. Dass er bei der Verlagssuche für sein Buch Return To Life Through Contrology nicht verzweifelt war, obwohl er jahrelang nur Absagen kassiert hatte. „Widerstand ist das Streichholz, das das Feuer entzündet“ – das war seine Haltung. Über vier Jahrzehnte lang hatte er unzähligen Klienten die gleichen Übungen beigebracht, ohne große Änderungen vorzunehmen.
Diese Entschlossenheit brachte eine Saite in mir zum Klingen. Ich bin genau umgekehrt: In meinem Kopf spuken so viele Ideen herum, dass ich selten dazukomme, eine davon in die Tat umzusetzen. Manchmal muss jemand von ganz weit her kommen oder aus einer ganz anderen Zeit, um uns auf das Naheliegende aufmerksam zu machen. Dieser Mann, der knapp hundert Jahre vor mir geboren war, hatte eine Botschaft für mich: „Konzentriere Dich!“, flüsterte er mir zu, „beschränke Dich auf eine Sache! Kümmere Dich um Deinen Körper!“
Mich auf eine Sache zu beschränken – so schön dieser Gedanke auch war: als Mutter zweier Kinder war es vollkommen unmöglich, ihn in die Tat umzusetzen. Aber ich fing an, mich etwas mehr um meinen Körper zu kümmern. Und ich fasste einen Entschluss: Diese Biografie über Joseph Pilates sollte nicht als eine meiner vielen unverwirklichten Ideen enden. Ich würde meine Kräfte bündeln, und dem Mann mit der Botschaft auf diese Art und Weise meine Dankbarkeit zeigen – auch wenn er schon lange tot war.
Meiner Sitznachbarin im Zug von Boston nach New York erzählte ich das alles nicht. Doch ich war ihr dankbar, dass sie mir so unverblümt diese Frage gestellt hatte. Denn als ich an der Penn Station in New York aus dem Zug stieg und mich ins Getümmel stürzte, wusste ich ganz genau, was ich hier tat: Ich konzentrierte mich.